Einleitung

Im Alltag einer Mediengesellschaft werden Menschen tagtäglich und fast ununterbrochen einer enormen Anzahl von visuellen Reizen ausgesetzt. Unzählige Fotografien, Bilder, Animationen, Videoclips und Filme gruppieren sich um Geschichten – Geschichten des Alltags, Geschichten aus anderen Regionen der Welt und Geschichten über die Vergangenheit. Dem Medienwissenschaftler Klaus Kreimeier folgend, ist es deshalb wichtig, statt lediglich von einer sozialen Wirklichkeit auszugehen, besser von einer Medienwirklichkeit zu sprechen, welche die soziale Erfahrung um medial vermittelte Dimension der Welterfahrung ergänzt, die zum Teil mit Alltagswahrnehmungen konkurrieren, sie unterwandern oder mit ihnen Allianzen eingehen. Soziale Wirklichkeit ist nicht nur das, was in der Interaktion zwischen Individuen erzeugt wird, auch medial vermittelte Artefakte besitzen einen entscheidenden Anteil an der Konstruktion von Realität, von Normalität und einer Auffassung von Rechtmäßigkeit, die dann wiederum „zum festen Inventar des modernen Bewusstseins gehören“ (Kreimeier 2001: 445). Eine fotografisch vermittelte Begebenheit kann durchaus mit Distanz betrachtet werden – man kann es nur als ein Foto abtun – jedoch zeigt sich zugleich, dass erst eine „Fotografie einem Betrachter Zugang zu Bereichen der Wirklichkeit [verschafft], die ihm anders nicht zugänglich wären“ (Brink/Wegerer 2012: 9). Lediglich als fotografisches Dokument können diese Bereiche der Wirklichkeit Gegenstand der diskursiven Ordnung werden und den*die Betrachter*in diesbezüglich zu einer Positionierung bringen. Was jedoch in einem spezifischen Bild gesehen wird, ist weder vorherbestimmt noch beliebig. Zwar spielen „subjektive Bildererfahrungen, Sehgewohnheiten der eigenen Zeit, außerdem Erfahrungen mit bestimmten Typen von Bildern und visuellen Medien“ (ebd.: 12) eine entscheidende Rolle, jedoch sind solche Möglichkeiten nicht endlos: „[S]ie bleiben an ihre Zeit gebunden“ (ebd.).

Solche virtuellen Realitäten sind folglich zunehmend handlungsbestimmend und so wurden und werden Repräsentationen wichtiger, vielleicht sogar „tendenziell wichtiger als das tatsächliche Geschehen“ (Paul 2009: 25). Visualitäten stellen demnach einen großen Anteil der sozialen Realität und des Diskursiven dar. Aus diesem Grund bedarf es auch einer eigens hierfür adaptierten Perspektive; eine beiläufige Übertragung sprachlicher Betrachtungsweisen oder die Einbeziehung von Visualitäten nur am Rande einer verbalen Diskursanalyse wird der Vielfalt der medial vermittelten Wirklichkeit nicht gerecht. Im Verlauf dieser Arbeit wird deshalb der Versuch unternommen, eine vorwiegend für sprachliche Artefakte ausgearbeitete Diskurstheorie, jene von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, auf den Gegenstand visueller Entitäten der sozialen Wirklichkeit zu übertragen um sensibel für die Besonderheiten von Visualitäten zu werden.

Während der Einbezug von nicht-sprachlichen Artikulationen im Diskurskonzept von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe explizit gefordert wird (vgl. Laclau/Mouffe 1991: 160), stellt eine solche Explizierung und Operationalisierung bislang eine Leerstelle dar. Ziel ist es, Diskurse visuell zu denken, d. h., das Besondere einer Betrachtung von visuellen Artikulationen herauszuarbeiten. Visuelle Diskurse sind anders als sprachliche Diskurse. Sie dienen ebenfalls der Konstruktion von Universalität und Alternativlosigkeit, jedoch, so glaube ich, auf eine andere Art und Weise. Deshalb wird im Folgenden versucht, geeignete Theorien sowie Instrumente der Betrachtung zu versammeln, um einen präzisen Blick auf Visualitäten zu ermöglichen, der in dieser Form entsprechend der Konzepte von Laclau und Mouffe noch nicht möglich war. Es scheint außerdem möglich, durch eine Betrachtung der Funktionsweise von Bildern zum Verständnis von Artikulationen und Hegemonien allgemein beizutragen und Möglichkeiten der Theorieentwicklung aufzuzeigen. Nicht alle, im Laufe dieser Arbeit aufgestellten Vermutungen werden sich schlussendlich als haltbar erweisen. Jene Aspekte ergänzender Theorien, welche sich hierdurch als ungeeignet oder irreführend entpuppen, werden sodann teilweise verworfen und durch Ausführungen neuer konzeptueller Vorschläge ergänzt.

So werden im ersten Teil dieser Arbeit notwendige diskurstheoretischen Grundlagen dargelegt und erste Überlegungen und Übertragungen derer auf Visualitäten angestellt. Der Abschnitt "Theorie" dieser Arbeit fokussiert hierbei die von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe entwickelten Konzepte einer Diskurstheorie. Hierfür wird zuerst ein grundlegender Einblick in das Diskurskonzept, die Prozesse der Äquivalenzierung und Differenzierung der artikulatorischen Praxis gegeben. Außerdem werden die Konstruktion von stabilisierenden Knotenpunkten – von leeren oder entleerten Signifikanten als Subversion des differenziellen Bezeichnungssystems – und die Grenzbildung zu einem bedrohlichen Außen als Reaktion auf die Unmöglichkeit des Sozialen illustriert, ehe diese Aspekte auf die Praxis der visuellen Artikulation übertragen werden. Eine Konstruktion der Knotenpunkte als universal und alternativlos bzgl. ihres Versprechens, den Mangel des Sozialen und die Bedrohung des Außen zu bewältigen, ist Laclau und Mouffe zufolge das politische Moment, das Hegemonie ermöglicht und stabilisiert. Dass es sich bei visuellen Artikulationen ebenfalls zu gewissen Graden um Signifikationen einer legitimen, jedoch abwesenden sozialen Ordnung handelt, die mittels einer Artikulation von Differenzen und Äquivalenzen zur Konstruktion von Universalität und Alternativlosigkeit beitragen, stellt demnach die grundlegende Annahme dieser Arbeit dar.

Da es bislang noch keine geeignete Methode der visuellen Diskursanalyse gibt, widmet sich der Abschnitt "Methodologie" Möglichkeiten der Betrachtung eines visuellen Datenkorpus. Mithilfe von drei verschiedenen methodischen Herangehensweisen – der Hegemonie-, Simultanz- und visuellen Stilanalyse – wird ein heuristischer Werkzeugkasten bestückt, mit dem es gelingen mag, einen visuellen Diskurs explorativ zu betrachten, d. h. mit dem eine Suche nach dem gleicherweise präsenten Etwas, das die Einheit eines Diskurses garantiert, auch visuell möglich erscheint. Hierbei werden die für textliche Korpora entwickelten Ansätze der Hegemonieanalayse (Nonhoff 2008) und der Simultanzanalyse (Bruell 2007) skizziert. Die Hegemonieanalyse eröffnet hierbei den Blick auf eine antagonistische Zweiteilung des Diskurses, indem alle Forderungen zur Überwindung des Mangels in Kontrarietät zu einer nicht-artikulierbaren jedoch stets implizit reproduzierten Äquivalenzkette des Mangels gedacht werden können. Da diese Seite der Ausschließung, der Mangel, konstitutiv für die Existenz eines Diskurses ist, lässt sich mithilfe dieser Technik das Zentrum eines Diskurses ausfindig machen, welches das Versprechen in sich trägt, diesen Mangel in seiner Gänze zu überwinden. Da jedoch das Konzept Martin Nonhoffs auf der Bildung von Äquivalenzketten beruht, die schlecht auf visuelle Artikulationen übertragbar sind, wird stattdessen das Konzept der Simultanz, der Überlappung von Elementen eines Diskurses, zur Hilfe genommen. Theoretisch gelingt es anhand dieses Konzepts, auch visuell einen solchen Repräsentanten zu ermitteln. Mithilfe dieser Ansätze erscheint es möglich, Artikulationen eines Diskurses bezüglich ihrer Forderungen zur Überwindung des Mangels zu gruppieren. >

In einem weiteren Schritt werden diese methodischen Ansätze mit praktischen Techniken der Bildanalyse ergänzt. Die enorme Komplexität des Datenmaterials eines visuellen Diskurses erfordert eine Systematisierung der Analyse bezüglich typischer Bildmuster und deren Sinnpotentiale, statt einer Feinanalyse des gesamten Bildmaterials. Während klassische Methoden der Bildanalyse, so die Ikonologie, aufgrund der Größe des Datenmaterials impraktikabel sind, ermöglicht die systematische Betrachtung ausgewählter ikonisch-ikonologischer Aspekte, wie sie Stephan Meier (2014) vorschlägt, sowohl überindividuelle und damit machtabhängige Regelmäßigkeiten der diskursiven Verstreuung zu ermitteln als auch das marginalisierte Andersmögliche sichtbar zu machen. Für die konkrete Bildbetrachtung wird deshalb die Methode der visuellen Stilanalyse von Meier in adaptierter Form verwendet. Verallgemeinernde Aussagen bezüglich eines ungewöhnlich großen visuellen Datenkorpus werden hierdurch möglich.

Der zweite Teil dieser Arbeit dient einer empirischen Exploration – wenn auch explizit keiner elaborierten visuellen Diskursanalyse – der Möglichkeiten und der Grenzen einer Betrachtung von visuellen Datenkorpora entsprechend der zuvor getätigten theoretischen und methodischen Überlegungen. Die Sensibilisierung für Besonderheiten visueller Diskurse und visueller Artikulationen erfolgt an einem exemplarischen Gegenstand. Da es sich bei der Diskurstheorie von Laclau und Mouffe vor allem um eine Hegemonietheorie handelt, sollte ein Diskurs ausfindig gemacht werden, der einerseits stark visuell verhandelt wird, andererseits jedoch allem Anschein nach hegemonial operiert. Die Eignung des visuellen Diskurses der Schwangerschaft wird im Abschnitt "Empirie" mittels sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse sowie dem Phänomen, das in sozialen Medien mit dem Hashtag #regrettingmotherhood bezeichnet wird, illustriert. Schwangerschaft erweist sich hierbei als Gegenstand gesamtgesellschaftlicher Interessen, während die individuelle Entscheidung und Lebensplanung dem untergeordnet ist. Der Diskurs der Schwangerschaft dient hierbei als Beispiel für die daran anschließenden theoretischen Argumentationen. Die Untersuchung des Korpus soll lediglich dazu dienen, ein Gespür für die Wirkungsweise visueller Artikulationen an sich zu gewinnen. Ebenso wird an dieser Stelle die Zusammenstellung des konkreten Datenkorpus aus Titelseiten von Ratgeberliteratur zur Schwangerschaft als Einstieg in einen hegemonial wirksamen Diskurs begründet.

Beim Abschnitt "Ratgeber" handelt es sich um die reduzierte und pointierte Illustration der empirischen Ergebnisse. Eine ausführliche Version der Ergebnisse steht im Anhang dieser Arbeit zur Verfügung. Zum einen wird hierbei deutlich, dass sich in der Tat mithilfe des zuvor angelegten heuristischen Werkzeugkastens verallgemeinerbare Interpretationen des Datenmaterials erarbeiten lassen, zum anderen stellen sich Besonderheiten visueller Artikulationen an sich heraus. Während der Datenkorpus bei der ersten Sichtung als eine Ansammlung verschiedenartiger Artikulationen erscheint, so zeigt sich, dass die Homogenität der möglichen Bedeutungsproduktionen beachtlich ist. Es handelt sich scheinbar vielmehr um eine Variation der immer gleichen Aussage. Zudem fällt auf, dass diese Homogenität, ist sie in eine sprachliche Artikulation mit vergleichbarem Verallgemeinerungsgrad übersetzt, ein Unbehagen bezüglich ihrer biopolitischen und ethischen Implikationen erzeugt. Währenddessen war zuvor an den visuellen Artikulationen nichts Empörendes zu finden, welches das Bedürfnis einer relativierenden Anschlussartikulation, eines Widerspruchs erzeugt hätte. Diese Aspekte werden als erklärungsbedürftig erachtet und deshalb im dritten Teil der Arbeit näher betrachtet.

Entsprechend der Erkenntnisse der explorativen Analyse stehen Gedankenspiele zur Erweiterbarkeit der Konzepte von Laclau und Mouffe bezüglich visuelle Diskurse im Vordergrund des dritten Teils der Arbeit. Aspekte, bei denen eine direkte Übertragung, der auf verbalen Artikulationen gründenden Konzepte unzureichend oder irreführend ist, werden ermittelt. Zugleich werden theoretischer Ergänzungsmöglichkeiten vorgeschlagen, die vermutlich eine angemessenere Betrachtung von visuellen Artikulationen gestatten. Diskrepanzen fallen u. a. bezüglich der Unterscheidbarkeit von Signifikant und Artikulation auf, die jedoch für die Ermittlung eines Knotenpunkts als relevant betrachtet wird. Sie wird deshalb im Abschnitt "Signifikant vs. Artikulation" eingehender betrachtet. Eine mögliche Lösung für das Problem wird in dem Konzept der Simultanz gesehen, das zumindest eine Annäherung an einen Knotenpunkt ermöglicht. Das Ausbleiben eines Widerspruchs gegenüber den Artikulationen des Korpus wird im Abschnitt "Widerspruch" eingehender betrachtet. Mittels bildtheoretischer Überlegungen bezüglich der Suggestion von Objektivität sowie einer Kontingenzverleugnung von Visualitäten gelingt eine erste, jedoch noch unzureichende Annäherung. Da auch Grafiken und offensichtlich artifizielle Fotografien dieselbe widerspruchsfreien Wirkmacht wie vermeintlich dokumentarische Fotografien zeigen, sind diese Konzepte ungenügend. Eine tiefergehende, theoretische Betrachtung der Bedingungen von Widerspruch und der konstitutiven Konflikthaftigkeit des Sozialen wird deshalb daran angeschlossen. Im Zuge eines "Exkurses" stehen beispielhafte Artikulationen im Vordergrund, die der suggerierten Homogenität des Datenkorpus zu widersprechenden scheinen. Während die Homogenität des Datenkorpus kein Unbehagen und Widerspruch auslöste, so zeigt sich, dass diese ergänzend betrachteten Artikulationen regelrecht von einem Sturm der Entrüstung begleitet wurden. Demzufolge ist Widerspruch gegenüber visuellen Artikulationen durchaus möglich, den Artikulationen des Korpus ist jedoch eine widerspruchshemmende Wirkung zu eigen.

Zur genaueren Beleuchtung dieses Umstands wird im darauffolgenden Abschnitt die "affektive Dimension" des Diskursiven in Betracht gezogen. Affekttheoretischen Positionen zufolge, können einmal ausgelöste Affekte, als körperlich Gelebtes und prä-kognitiv Wahrgenommenes, jedoch keineswegs Vorsoziales, scheinbar nicht abgelehnt werden. Erst eine retrospektive Narrativierung des Erlebten reduziert die Dimension der Vorsprachlichkeit, wodurch eine kritische Reflexion dessen wahrscheinlicher ist. Auch verbale Artikulationen können affizieren, jedoch scheint die bei visuellen Artikulationen besonders ausgeprägte Dimension der Vorsprachlichkeit die Tragweite dessen zu steigern und das Ausbleiben eines Widerspruchs begreiflich zu machen. Die Perspektive eines auf Affekten gründenden radical investments ermöglicht außerdem, die bei Laclau und Mouffe auf Beliebigkeit gründende Wahl eines leeren Signifikanten nachvollziehbar zu machen. Hierdurch kann es gelingen, die körperlich gelebte Dimension des Diskursiven auch bezüglich eines entleerten Signifikanten, verstanden als ein prinzipiell abwesendes, jedoch positiv affiziertes Objekt der Begierde, mit einzubeziehen.

Während zwar durch eine affektive Dimension des Diskurses das Ausbleiben eines Widerspruchs nachvollziehbarer wird, lässt sich die beobachtete Homogenität des Datenkorpus hierdurch nicht ausreichend erklären. Ein großer Anteil real existierenden Schwangeren wird (zumindest bezüglich der Ratgebertitelseiten) aus dem Bereich des visuell Erfahrbaren ausgeschlossen. Sie sind hierdurch kein Teil der, mittels dieser visuellen Artikulationen konstruierten, diskursiven Ordnung. Die Relevanz einer sinnlichen und damit ästhetischen Wahrnehmbarkeit für die Teilhabe am Gemeinsamen, d. h. Anteil an der sozialen Ordnung zu haben, ist Gegenstand der Konzepte Jacques Rancières (2006). Die von ihm beschriebene ‚Aufteilung des Sinnlichen‘ werden im Abschnitt "Entpolitisierung" dieser Arbeit thematisiert. Die von ihm durchgeführte, theoretische Unterscheidung und eine Logik der Politik und der Polizei, ermöglicht die Wirkungsweise visueller Artikulationen differenzierter zu betrachten. Paradoxerweise scheinen sich Visualitäten einerseits als Instrument der Sichtbarmachung par excellence und damit äußerst politisch auffassen zu lassen. Andererseits begünstigen ihrer Potentiale zur Affizierung eine affirmative Wirkung bezüglich der bestehende Aufteilung. Die vorreflexive Wirkung von Visualitäten führt zu einem Gedankenspiel bezüglich einer „Politik der versuchten Abschaffung von Politik“ (Robnik 2009: 18) bzw. einer Entpolitisierung durch diese. Einer affekttheoretischen Dimension scheint es hierdurch möglich, einen Aspekt des Diskursiven zu erfassen, der entscheidend dazu beiträgt die (hegemoniale) soziale Ordnung zu stabilisieren.

Der letzte Abschnitt stellt schließlich die "Schlussfolgerung" dieser Arbeit dar. Hierfür werden die im Verlauf dieser Arbeit erzeugten Erkenntnisse zusammengeführt und verdichtet. Das gewählte Vorgehen, die hierdurch gewonnen Erkenntnisse sowie deren Potentiale und Reichweiten werden kritisch betrachtet. Ebenfalls werden mögliche Ansatzpunkte für weitergehende Überlegungen angedeutet.

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