Grenzen und Ergänzungen:
Signifikant vs. Artikulation
Die Unterscheidbarkeit von Signifikant und Artikulation
Die Theorie von Laclau und Mouffe gründet maßgeblich auf der Annahme einer Konstruktion eines stabilisierenden Knotenpunktes im Zentrum des Diskurses, eines Signifikanten, der sich seiner Bedeutung zu unterschiedlichen Graden entleert und hierdurch die Einheit der zu dem gleichen Diskurs gehörenden Artikulationen repräsentiert. Können nur Teile der Kette durch ihn repräsentiert werden, so handele es sich zumindest um einen stark entleerten Signifikanten. Für verbale Artikulationen gilt Nonhoff folgend, dass der Signifikant, der es schaffe, die gesamte Äquivalenzkette zu repräsentieren, schließlich zum leeren Signifikanten avanciere. Bei sprachlichen Artikulationen ist die hierfür notwendige Unterscheidung zwischen Signifikant und Artikulation scheinbar einfacher als bei visuellen Artikulationen: Während ein Signifikant zumeist aus einem Wort oder einer feststehenden Wortgruppe bestehe (z. B. ‚Freiheit‘, ‚Demokratie‘, ‚Soziale Marktwirtschaft‘), die erst durch die Kombinationen mit anderen Signifikanten und einer grammatikalischen Ordnung zu einer Artikulation werden, so erweist sich dies im Visuellen komplizierter.
Es ist durchaus sinnvoll, von einer Bildsprache zu sprechen, denn es handelt sich ebenfalls um eine kontingente Praktik des In-Beziehung-Setzens. Auch anhand von visuellen Artikulationen werden Bedeutungen erzeugt und eine Bezugnahme ermöglicht. Wie eingangs schon beschrieben, kann es Bilder ohne Differenzen nicht geben, da diese dann nicht als solche erkannt werden könnten. Im Falle von Bildern sind jedoch die Grenzen zwischen Signifikant und Artikulation diffuser. Ist ein Signifikant ein einzelnes (Teil-)Motiv einer Fotografie oder die Fotografie in seiner Gesamtheit? Oder ist eine Fotografie als Ganzes vielmehr eine Artikulation, die Relationen zwischen einzelnen Bildaspekten erzeugt und dadurch Sinn generiert? Eine Artikulation, verstanden als Praxis des In-Beziehung-Setzens, ist nicht ohne Beziehung zu anderen diskursiven Elementen denkbar. Eine Artikulation ist immer eine partielle Fixierung unter gleichzeitiger Sinngenerierung und -modifikation. Die Vermutung an dieser Stelle ist, dass ein visueller Signifikant nur eine analytisch-heuristische Kategorie sein kann, jedoch diskursiv nicht existiert. Während ein sprachlicher Signifikant isoliert vorstellbar ist – ein Wort ohne grammatikalische Verknüpfungen, nicht als Reaktion auf etwas und ohne Folgereaktionen ist denkbar, wenn auch bedeutungslos. Da jedoch eine visuelle Signifikation aufgrund von Farbgebung, von Lichtverhältnissen, von der Art des Objektes immer schon eine In-Beziehung-Setzung von verschiedenen Stilelementen ist und sein muss, ist ein visueller flottierender Signifikant ohne jegliche Beziehung unvorstellbar. Eine visuelle Signifikation einer Tomate kann diese als rot oder grün zeigen, als klein oder groß, als unreif, reif oder überreif, als Fotografie oder als Zeichnung, als Cherry-, Strauch- oder Flaschentomate etc. Diese Aspekte kann man visuell nicht isolieren, jedoch sind solche Aspekte nicht zwangsläufig mit dem Wort ‚Tomate‘ in Verbindung gebracht. Jede visuelle Signifikation ist schlussendlich eine Artikulation, kein flottierendes Element (also eine Differenz ohne diskursive Verbindung), sondern kann nur als Moment auftreten, da mittels Perspektivwahl, Farbgebung, Belichtung etc. einem visuellen Signifikanten, mehr als einem sprachlichen, stets eine gewisse Haltung und Interpretation zuteil wird. Die Isolation eines Signifikanten in Abgrenzung zu einem Konglomerat an Signifikanten, die sich zu einem Motiv bündeln ist demnach schon ein heuristisches Problem.
Denkbar ist jedoch, dass besonders eingängige und häufig reproduzierte visuelle Artikulationen in ihrer Gesamtheit ähnlich eines leeren Signifikanten auftreten können. In der Bildwissenschaft spricht man von solchen Bildern dann als Ikonen, denn innerhalb ihrer Rezeptionsgeschichte bezeichnen sie weitaus mehr, als das abgebildete Geschehen und zeichnen sich deshalb durch Reartikulationen fernab des ursprünglichen Diskurses und zum Teil widerläufige Bezugnahmen aus, ganz so wie dies mit einem leeren Signifikanten auch geschieht. Es scheint demnach plausibel, dass besonders markante, ikonische Fotografien an sich als entleerter Signifikant fungieren können. Ikonische Kriegsfotografien, die in nicht-militärischen Kontexten rezipiert werden, führen so zum Beispiel zu einer Stabilisierung der eigenen Identität in Abgrenzung von einem Fremden und Bedrohlichen auch ungeachtet des eigentlichen Entstehungskontexts.
Während also eine einzelne, ikonische Fotografie als leerer Signifikant wirksam sein kann, so scheint es bei einem vergleichbar diffusen Diskurs, wie dem der Schwangerschaft, schwerer ein solches Einzelbild ausfindig zu machen. Statt identischer Bildartikulationen zeigen sich stattdessen starke Grade der Ähnlichkeit. Die Bilder sind nicht alle gleich, aber sich alle in gewisser Weise ähnlich, sie kombinieren eine unterschiedliche Anzahl von Elementen eines Pools legitimer und positiv konnotierter Attribute, d. h. Attributen der gleichen Seite der Einschließung, die in ihrer Gesamtheit eine hegemoniale Formation der Schwangerschaft hervorbringen können. Eine Annäherung an einen möglichen Repräsentanten eines Knotenpunkts könnte jedoch mit dem Konzept der Simultanz gelingen, selbst wenn es sich hierbei schlussendlich nicht um einen leeren Signifikanten im eigentlichen Sinne handelt. Im vorliegenden Korpus ist aufgefallen, dass mehrere (Teil-)Motive und Bildelemente in weitestgehend jeder Fotografie zugleich aufzufinden waren (neben dem Element des Bauches, auch der Hauttyp der Schwangeren, die Wahl der Halbnahen als Einstellung, bequeme Kleidung, die häusliche Sphäre etc.). Während manche dieser für Fotografien ganz anderer Kontexte ebenso typisch sind, so zum Beispiel die Einstellung der Halbnahen (Bruell spricht in diesem Fall von einer lösenden Simultanz erweisen sich andere als sehr spezifisch für den Diskurs der Schwangerschaft, so u. a. der gewölbte Bauch, dessen Entblößung und die Kontaktaufnahme mittels Blick oder Hand. Diese Bildelemente ermöglichen unmissverständlich eine Zuordnung zum Diskurs der Schwangerschaft, weswegen es sich voraussichtlich um äquivalenzierende Simultanzen handelt, bei denen quantitativ häufig im Diskurs auftretende Motive auch qualitativ häufig überlappen. Solche Motive treten also jeweils häufig im Diskurs auf und zudem häufig gleichzeitig. Einer der beiden Codes stellt Cornelia Bruell zufolge einen Knotenpunkt des Diskurses dar, der, je mehr Momente an ihn gekoppelt werden, zunehmend entleert wird und schließlich als leerer Signifikant bezeichnet werden kann (vgl. Bruell 2007: 206).
Aspekte, die weniger stark mit Schwangerschaft verknüpft zu sein scheinen, lassen sich als untergeordnete Simultanz bezeichnen, d. h. „[d]as absolute Vorkommen des Vergleichscodes ist schwach, allerdings überlappt er zu einem hohen Prozentsatz mit dem Ausgangscode“ (ebd.). Ein solcher Vergleichscode kann nicht selbst zum Knotenpunkt werden, er verweist jedoch aufgrund der Bindekraft zum Ausgangscode auf dessen Funktion als Knotenpunkt (vgl. ebd.). Eine Artikulation des offensichtlich gewölbten Bauches einer Schwangeren ist nicht zwingend notwendig, um sie als Schwangere zu identifizieren, auch Schwangerschaftstest, Ultraschallbilder oder Babysachen, also untergeordnete Vergleichscodes, können die Funktion der Zuordnung zum Diskurs der Schwangerschaft erfüllen, jedoch steht der Babybauch in Einklang mit jeglichem Element der Einschließung und weist eine starke Bindekraft mit anderen Codes auf. Gegenhegemoniale Artikulationen, oder Antagonisierende Artikulationen, wie diese Cornelia Bruell charakterisiert (vgl. ebd.: 204), konnten zumindest im Korpus in dieser Form nicht ausfindig gemacht werden [33]. Keine Artikulation des Korpus scheint die vom Schwangerschaftsbauch repräsentierten Äquivalenzierungen in Frage zu stellen – Alternativen zu artikulieren – und das visuelle, hegemoniale Bild der Schwangerschaft herauszufordern, ihm zu widersprechen. Das Moment des gewölbten Bauches scheint eine der zentralsten, wenn auch keine notwendige, Signifikation des Korpus zu sein. So wundert es auch nicht, dass dieser schließlich nichts Anderes mehr bezeichnet, als die Positivität der Schwangerschaft im doppelten Sinne. Er signifiziert sowohl das faktische Bestehen einer Schwangerschaft als auch ihrer Bewertung als durchweg positiv und erstrebenswert. Eine abschließende Aussage darüber, was der visuelle leere Signifikant im Falle der Schwangerschaft ist, ist jedoch weder das Ziel dieser Arbeit noch auf der empirischen Grundlage zu sagen.
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[33] Beispielhafte antagonisierenden Artikulationen abseits des Datenkorpus, so z. B. von sportlich aktiven Schwangeren, sind Gegenstand eines Exkurses im späteren Verlauf der Arbeit.