Zugrunde gelegte Theorien
Visuelle Artikulationen und die Theorie leerer Signifikanten
Die Notwendigkeit einer visuellen Perspektive auf Diskurse
Die Notwendigkeit einer visuellen Perspektive auf Diskurse
Die Soziologie ist seit jeher eine Textwissenschaft: Bestehende Texte werden gelesen, neue geschrieben und publiziert, die anschließend gelesen werden, etc. Umso erstaunlicher scheint es, dass die Entdeckung von Texten als Datenquelle in der Soziologie erst in den 1970er Jahren bemerkbar wurde. Ein Paradigmenwechsel, bezeichnet als der linguistic turn, vollzog sich[1]. Betrachtet man die Entwicklung qualitativer Methoden, so ist schließlich vor allem eine Verfeinerung und Reflexion von Verfahren der Textinterpretation zu beobachten. Texte wurden nun nicht nur produziert und rezipiert, sondern auch analysiert und interpretiert. Außerdem führt das Primat der Wissenschaft, dass „jegliche Beobachtung, die wissenschaftlich relevant werden soll, […] durch das Nadelöhr des Textes hindurch“ (Bohnsack 2003: 241) muss, zu einer starken Textfokussierung. Dieses erschwert folglich eine wissenschaftliche Betrachtung von Bildern, denn Bilder müssen erst in Texte umformuliert werden, um vertrauenswürdig zu erscheinen (vgl. ebd.). Der Zusammenhang von Bildern und Texten wird aber schon durch den Prozess der Signifikation deutlich, da „jede Art von Zeichen oder Bedeutungssystemen Bilder impliziert. Das zu jedem Signifikant (einem Wort beispielsweise) gehörende Signifikat ist nicht ein Ding, sondern ein inneres oder ‚psychisches‘ Bild“ (ebd.: 243; vgl. Barthes 1983: 53). Außerdem betont Bohnsack, „[d]ass wir uns im Alltag durch Bilder verständigen“ (2003: 242, Herv. i. O.) und nicht nur über diese, da wir in jeder Interaktion Mimik und Gestik unseres Gegenübers zu interpretieren haben, ähnlich wie wir das mit Bildern tun. Folglich wird „unsere gesellschaftliche Wirklichkeit durch Bilder nicht nur repräsentiert, sondern auch konstituiert“ (ebd.). Die handlungsleitende Qualität von Bildern gilt es deshalb in den Blick zu nehmen. Eine visuelle Diskursanalyse ist somit nicht nur der Versuch einer Übertragung sprachlicher Charakteristiken auf visuelle Entitäten, sondern liegt im Ursprung des Signifikationsprozess begründet.
Jedoch dauerte es bis in die 1990er und 2000er Jahre, bis
sich eine visuelle Soziologie zu formen begann, eine visuelle Diskursanalyse
wurde jedoch bis dato noch nicht detailliert ausformuliert: Arbeiten zu
visuellen Diskursanalysen sind, wahrscheinlich aufgrund des kürzlichen identifizierten
iconic bzw. visual turn, erst in ihren Anfängen oder lediglich als Programme
formuliert (vgl. Traue 2013). Vereinzelt gab es die Forderungen auch
Materialitäten und diskursive Praktiken in den Untersuchungsgegenstand mit
einzubeziehen (vgl. Laclau/Mouffe 1991; Reckwitz 2008). Die Notwendigkeit einer
Weiterentwicklung der
visuellen Diskursanalyse wird so auch von Boris Traue betont, denn
Visualitäten erweisen sich „als Bestandteile aller Wissensordnungen, die zur
Formierung von sozialem Sinn sowie von Welt- und Selbstverhältnissen beitragen“
(Traue 2013: 117f.). Die Forderung von Traue ist es somit, eine Methode zu
entwickeln, mit der es möglich ist, das Verhältnis von Regimen des Sichtbaren
zu Regimen des Sagbaren betrachten zu können. Im
Folgenden wird die Diskurstheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, deren
elementarer Bestandteil die Konzeption leerer Signifikaten ist, rekapituliert,
um im weiteren Verlauf der Arbeit den Versuch zu unternehmen, diese Theorie mit
Überlegungen bezüglich einer Betrachtung von Bildern, insbesondere von
Fotografien, zu erweitern. Aufgrund der bereits stark ausgearbeiteten
textuellen Diskurstheorie wird in diesem Text vor allem auf visuelle Aspekte [2]
Bezug genommen, jedoch betont, dass eine umfassende (visuelle) Diskursanalyse
sich nicht auf Bilder beschränken darf, sondern zumindest die um sie
versammelten Texte mit einbeziehen muss.
Laclau und Mouffe nähern sich dem Sozialen (bzw. der Gesellschaft) vor allem, indem sie es als eine „Agglomeration von Diskursen“ (Reckwitz 2006: 341) betrachten. Diskurse sind hierbei spezifische Systeme von Differenzen und Unterscheidungen, die den Dingen in unserer sozialen Wirklichkeit Bedeutung verleihen und sie in eine relationale Ordnung bringen, eine ‚Ordnung der Dinge‘ erzeugen. Hierbei wird ausdrücklich nicht zwischen Aussagen und Äußerungen und ebenso nicht zwischen diskursiver und nicht-diskursiver Praxis unterschieden, sondern der „materielle Charakter jeder diskursiven Struktur“ betont (Laclau/Mouffe 1991: 158; vgl. ebd.: 157). Da jedes erfahrbare Objekt sich als Objekt eines Diskurses konstituieren muss – schließlich ist „kein Objekt außerhalb jeglicher diskursiver Bedingungen des Auftauchens gegeben“ (ebd.: 157) – kann eine artikulatorische Praxis auch „nicht bloß aus rein sprachlichen Phänomenen bestehen [.]; sie muß vielmehr die gesamte materielle Dichte der mannigfaltigen Institutionen, Rituale, Praxen durchdringen“ (ebd.: 160). Eine Textfokussierung verkürzt somit den Betrachtungsgegenstand des Diskursiven, die Ergänzung einer visuellen Komponente ist demnach sinnvoll. Um den Perspektivwechsel sprachlich zu markieren, führen sie den Begriff der ‚Artikulation‘ ein, wodurch die relationale Logik von verbalen Äußerungen auf die gesamte soziale Wirklichkeit erweitert wird. Die Praxis der Artikulation ist somit eine kontingente Praxis des In-Beziehung-Setzens von sprachlichen sowie nicht-sprachlichen Elementen. Ein Diskurs enthält also „eine Verstreuung ganz verschiedener materieller Elemente“ (ebd.: 159). Im Folgenden soll zuerst ein erster Überblick über die Konzepte von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe gegeben werden. In einem zweiten Schritt werden die Konzepte mit Hinblick auf Möglichkeiten einer visuellen Diskurstheorie beleuchtet und entsprechend des Wortschatzes für Visualitäten gegebenenfalls reformuliert. Anschließend wird anhand von drei verschiedenen Methoden (visuelle Stilanalyse nach Meier, Hegemonieanalyse nach Nonhoff und Simultanzanalyse nach Bruell) versucht, ein geeignetes Instrumentarium für die Betrachtung von visuellen Diskursen zusammenzustellen.
Die differentielle Natur des Bezeichnungssystems und die Bildung von Knotenpunkten
Es klang schon an, dass die Essenz
der diskursiven Praxis in der differentiellen Natur des Bezeichnungssystems
besteht. Differenzen sind eine notwendige Bedingung für die Entstehung von
Identität, so lautet auch der Saussure’sche Grundsatz „dans la langue il n’y a
que des différences“ (Saussure 1967: 166; vgl. Reckwitz 2006: 341). Ohne
Unterscheidbarkeiten von anderen Entitäten, d. h. außerhalb eines
relationalen Signifikationssystems eines Diskurses sind Identitäten somit nicht
möglich. Es wird jedoch „[n]icht die Existenz von Gegenständen außerhalb
unseres Denkens [.] bestritten, sondern die ganz andere Behauptung, daß sie
sich außerhalb jeder diskursiven Bedingung des Auftauchens als Gegenstände
konstituieren könnten“ (Laclau/Mouffe 1991: 158). Da eine
Signifikation nur möglich ist, wenn sich die Differenzen zu einem System
zusammenschließen, ist folglich in jedem
einzelnen Akt der Bezeichnung die Gesamtheit von Sprache, bzw. des
Signifikationssystems involviert (vgl. Laclau 2002: 66).
Jede Praxis, die eine Beziehung
zwischen zwei Elementen etabliert und damit versucht, flottierende Elemente
(d. h. Differenzen, die bisher nicht artikuliert wurden) mit Momenten
eines Diskurses (d. h. innerhalb eines Diskurses artikulierten,
differentiellen Positionen) zu verbinden, wird von Laclau und Mouffe als
Artikulation bezeichnet (vgl. Laclau/Mouffe 1991: 155). Die in
artikulatorischen Praktiken generierten Fixierungen von Differenzen sind jedoch
niemals vollkommen abgeschlossen, mehr noch: Als Resultat der Artikulation
werden die Identitäten der beteiligten Entitäten (zumindest teilweise)
modifiziert (vgl. ebd.: 155, 158). Jegliche Artikulation führt zu einer
irreversiblen Transformation der beteiligten Entitäten, die vorherige Bedeutung
wird verändert und Sinn vermehrt [3]. Diskurse sind demnach
keine fixen Unterscheidungssysteme, in denen Zeichen stets mit einer
eindeutigen Bedeutung gekoppelt werden, sondern Differenzen und Relationen
müssen beständig durch eine artikulatorische Praxis hergestellt werden. Jedoch
impliziert diese Aussage, dass es zumindest partielle Fixierungen geben muss,
um „das Fließen der Differenzen“ überhaupt erst zu ermöglichen, denn „[g]erade
um sich zu unterscheiden, um Bedeutungen zu untergraben, muß es eine Bedeutung
geben“ (ebd.: 164). Nur aufgrund temporärer Bedeutungsfixierungen können sich
Diskurse als solche konstituieren, jedoch ändert diese Voraussetzung nichts
daran, dass Bedeutungen niemals endgültig fixiert werden können und die
Totalität des Soziales stets kontingent bleibt (vgl. Demirovic 2007: 62). Eine
Verfestigung des Sinns, Reckwitz spricht hierbei von einer ‚Bedeutungsroutinisierung‘,
ist ebenso zu beobachten, wie das „Aufbrechen dieser Sinnordnungen“ aufgrund
von Bedeutungsüberschüssen (vgl. Reckwitz 2006: 342). Solche Umdeutungen zeigen
die Kontingenz der sozialen Ordnung, wodurch diese prinzipiell möglichen
Polysemien zu Instabilitäten führen können und eine Gefahr für die soziale
Ordnung darstellen. Wenn etwas als kontingent erfahrbar ist, so gewährt dies
stets einen Spielraum an auszuhandelnden Auslegungsmöglichkeiten und ist damit
prinzipiell strittig und konflikthaft. Deshalb konstituiert sich jedweder
Diskurs als Versuch, „das Feld der Diskursivität zu beherrschen, das Feld der
Differenzen aufzuhalten, ein Zentrum zu konstruieren“ (Laclau/Mouffe 1991: 164)
und hierdurch Bedeutung zumindest teilweise zu fixieren.
Durch die vorübergehende Verbindung und Fixierung von Bedeutungen wird „das Spiel des Signifikanten“ (Demirovic 2007: 63) angehalten und mithilfe einer Konstruktion von Knotenpunkten der polysemische Bedeutungsprozess zumindest teilweise, wenn auch niemals endgültig, fixiert (vgl. Laclau/Mouffe 1991: 164; Demirovic 2007: 63). Diese Knotenpunkte partieller Fixierungen, Laclau und Mouffe nennen sie auch ‚privilegierte Signifikanten‘ (vgl. Laclau/Mouffe 1991: 164), sind jedoch in einer sie überflutenden Intertextualität konstituiert, sie sind überdeterminiert: Ihre Bedeutung wird permanent untergraben und überschritten, „weil die [intertextuell bedingte; K.B.] Präsenz einiger von ihnen in den anderen das Nähen der Identität eines jeden von ihnen verhindert“ (ebd.: 154). Eine Naht des Sozialen, eine Bildung einer in sich konsistenten Totalität, ist demnach nicht möglich. Gesellschaft hat kein Wesen, denn sie besteht „lediglich aus den relativen und prekären Formen der Fixierung“ (ebd.: 145) von Bedeutungen.
Diese Bedeutungen sind umkämpft,
sodass durch artikulatorische Praktiken versucht wird, gewisse Diskurse „als
universal und alternativlos zu präsentieren und zu instituieren“ (Reckwitz
2006: 343), um Stabilität zu erzeugen. Diese, als legitim erkennbare Sphäre der
Gesellschaft, kann sich nur konstituieren, indem eine Grenze zu einem
bedrohlichen und kaum begreifbaren Außen markiert wird: „der Verwerfung des
radikal Anderen“ (Reckwitz 2006: 344). Eine solche Grenzbildung gelinge nur,
„wenn das Jenseits zum Signifikanten reiner Bedrohung, reiner Negativität, des
schlichtweg Ausgeschlossenen wird“ (Laclau 2002: 68). Eine solche reine
Negativität kann „sich selbst nur als Unmöglichkeit der Verwirklichung dessen
enthüllen [.], was innerhalb dieser Grenzen liegt“ (ebd.: 66). Da alles, was
innerhalb der Grenzen, also im Bereich des Diskursiven liegt, auf einem
differentiellen Bedeutungssystem gründet, kann eine solche verwirklichte
Unmöglichkeit nur als Subversion des Bezeichnungsprozesses verstanden werden.
„Könnten die Grenzen in direkter Weise bezeichnet werden, dann würden sie der
Signifikation selbst angehören und wären – ergo – überhaupt keine
Grenzen“ (ebd.). Daraus folgt, dass die Grenzen eines differentiellen
Signifikationssystems „nicht selbst bezeichnet werden können, sondern sich
selbst zeigen müssen als die Unterbrechung oder der Zusammenbruch des Prozesses
der Signifikation“ (ebd.).
Ein solches Außen muss somit in irgendeiner Form diskursiv verhandelt werden, jedoch ohne durch eine Bezeichnung innerhalb des differenziellen Bedeutungssystems zur Seite der Einschließung zu gehören. Dies scheint paradox, wird jedoch von Laclau folgendermaßen aufgelöst: „Wenn [.] alle Darstellungsmittel von Natur aus differenziell sind, dann ist eine solche Signifikation nur möglich, wenn die differenzielle Natur der Bezeichnungseinheiten subvertiert wird“ (ebd.: 69). Folglich ist das Gemeinsame, auf das sich ein System in seiner Abgrenzung zu etwas Ausgeschlossenem beruft, nicht ein von allen geteiltes Merkmal, das durch die Nivellierung von Unterschieden entstand, denn die Differenzen bleiben erhalten (vgl. Demirovic 2007: 62f.). „Das Gemeinsame entsteht dadurch, dass sie gegenüber etwas ausgeschlossenem Dritten äquivalent werden, das nicht selbst wiederum eine Differenz ist, die als eine weitere Differenz zur Totalität selbst gehören würde“ (ebd.: 63). Die notwendige Äquivalenz, um zur gleichen Seite der Ausschließung zu gehören, führt zur Bildung von sogenannten Äquivalenzketten (vgl. Laclau 2002: 67, 68; Demirovic 2007: 71), wodurch die äquivalenten Diskurselemente lediglich einen Antagonismus dazu ausdrücken, was sie nicht sind: Ihre Identität ist demnach rein negativ. Um eine solche Äquivalenz der eingeschlossenen Signifikanten und zugleich der Abgrenzung von einer reinen Negativität zu ermöglichen und nicht eine Differenz zu produzieren und damit letztlich im Bezeichnungssystem zu verbleiben, bedarf es eines „unmöglichen Objekt[s]“ (Laclau 2002: 70), dessen einzige Aufgabe in „der reinen Auslöschung aller Differenzen“ (ebd.: 68) besteht. Es handelt sich um „bestimmte diskursive Formen [, die] durch die Äquivalenz jede Positivität des Gegenstandes auslöschen und der Negativität als solche eine reale Existenz geben“ (Laclau/Mouffe 1991: 185). Dieses unmögliche Objekt ist somit „als reale Unmöglichkeit, als ‚leerer Platz‘“ (Marchart 2013: 322) zu verstehen und wird von Laclau und Mouffe als leerer Signifikant [4]bezeichnet. Ist jegliche Differenz aufgelöst, dann wird der Signifikant selbst in seiner Bedeutung entleert und dient nur noch dazu „das System als reines Sein“ (Laclau 2002: 69) zu repräsentieren. Dieses ‚Sein‘, das durch einen leeren Signifikanten repräsentiert wird, ist jedoch konstitutiv unerreichbar: Der leere Signifikant wird zu einem Signifikanten des Mangels, „der sich auf die gemeinschaftliche Ordnung als Abwesenheit, als unerfüllte Realität bezieht“ (ebd.: 75) und paradoxerweise hierdurch als Knotenpunkt im Zentrum des Diskurses seine Stabilisierung ermöglicht. Einheit und Stabilität wird deshalb nicht durch etwas von allen geteiltes Positives gestiftet, sondern durch die Abgrenzung von etwas Negativem, einem gemeinsamen Feind, der die Ordnung bedroht (vgl. ebd.: 71)[5].
Um das bisher Gesagte kurz zu rekapitulieren: Laclau und Mouffe zufolge werden anhand der Praxis der Artikulation Differenzen erzeugt und Identität ermöglicht. Trotz beobachtbarer Bedeutungsroutinisierungen sind Polysemien möglich, die durch das Aufbrechen der Sinnordnungen eine Gefahr für die soziale Ordnung an sich darstellen. Durch die artikulatorische Praxis der Verwerfung des radikal Anderen werden deshalb einzelne Diskursstränge als universal und alternativlos präsentiert. Hierdurch entsteht eine Grenze zu einem bedrohlichen und kaum begreifbaren Außen, welches die Negation der rechtmäßigen Ordnung ist. Eine solche Abgrenzung bedarf eines unmöglichen Objekts, eines Signifikanten, der dem System ermöglicht, sich selbst als Totalität zu bezeichnen. Dies gelingt nur, wenn dieser durch eine reine Auslöschung aller Differenzen lediglich die Äquivalenz an sich darstellt und sich hierdurch jeglicher Bedeutung entleert. Dadurch wird der leere Signifikant zum Signifikanten des Mangels, der paradoxerweise sowohl als Knotenpunkt die gemeinschaftliche Ordnung stabilisiert und zugleich die prinzipielle Abwesenheit dieser Ordnung bemängelt. Dieses Konzept wird nun in einem nächsten Schritt bezüglich einer Perspektive auf visuelle Artikulationen weiter ausgeführt, um schließlich eine explorative Betrachtung solcher visuellen Artikulationen vorzubereiten.
Eine Theorie visueller Artikulationen
In den bisherigen Ausführungen wurde nun schon vermehrt darauf hingedeutet, dass nicht nur Texte im herkömmlichen Sinne, sondern auch Praktiken, Institutionen und Materialitäten, eigentlich alles Soziale, in die Praxis der Artikulation involviert sind und somit auch theoretisch einbezogen werden müssen. Während die theoretischen Überlegungen zu Diskursen und deren Analysen von Laclau und Mouffe als vielversprechend gelten, ist in den Arbeiten selbst selten eine explizite Übertragung auf nonverbale Artikulationen zu finden. Wie Diskurse auch visuell gedacht werden können, steht deshalb im Vordergrund dieses Abschnitts und so werden anschließend Überlegungen zur Wirkungsweise von visuellen Artikulationen getätigt. Eine visuelle Diskursanalyse darf jedoch nicht nur der Versuch sein, sprachliche Charakteristiken auf visuelle Entitäten zu übertragen, sondern muss der Eigenlogik visueller Artikulationen und dem Ursprung des Signifikationsprozesses Rechnung tragen. Aus diesem Grund wird ein visueller Datenkorpus als Irritationsfolie herangezogen, um die Überlegungen und Ausführungen von Laclau und Mouffe zu adaptieren und zu ergänzen. Ganz ähnlich zu der Haltung von Laclau und Mouffe wird auch hier keine detaillierte und vollständige Ausarbeitung einer visuellen Diskursanalyse angestrebt, sondern die Exploration der Möglichkeiten und der Grenzen einer Betrachtung von visuellen Diskursen steht im Vordergrund. Ähnlich der Auffassung Foucaults wird hier entsprechend der Haltung eines Experimentators und nicht eines Theoretikers vorgegangen:
„Ich bin ein Experimentator und kein Theoretiker. Als Theoretiker bezeichne ich jemanden, der ein allgemeines System errichtet, sei es ein deduktives oder ein analytisches, und es immer in der gleichen Weise auf unterschiedliche Bereiche anwendet. Das ist nicht mein Fall. Ich bin ein Experimentator in dem Sinne, daß ich schreibe, um mich selbst zu ändern und nicht mehr dasselbe zu denken wie zuvor“ (vgl. Foucault 1994: 42 – dt. Übersetzung von Keller 2008: 129).
So ähnlich verhält es sich auch mit den Arbeiten von Laclau und Mouffe, die selten eine konkrete anwendungsorientierte Perspektive beinhalten. Die Entwicklung einer politischen Theorie stand im Vordergrund und die Erarbeitung einer Diskursanalyse mit zugehöriger Methode war nie das Ziel der Arbeiten (vgl. Nonhoff 2007: 173f.). Die folgenden explorativen Erkundungen und Ausarbeitungen gründen, aufgrund des hohen Abstraktionsgrades der theoretischen Grundlagen, auf einem exemplarischen Datenkorpus[6]. Betont wird dennoch, dass die hier aufgeführten Aspekte und Schlussfolgerungen durchaus der Spezifität und Charakteristik des hier betrachteten Korpus geschuldet sein können und womöglich nicht bedingungslos zu verallgemeinern sind.
Einleuchtend ist, dass es sich bei Bereichen des Visuellen ebenfalls um ein relationales und differentielles Signifikationssystem handelt und durch Artikulationen Differenzen und demnach Identitäten erzeugt und beständig modifiziert werden. Die Vorstellung eines differenzlosen Bildes ist absurd, denn ohne Differenzen würde es sich nur um eine einfarbige Fläche handeln, die ohne Kontur mit dem Hintergrund verschwimmt; bereits ein Bildrahmen ist als Differenz zu sehen. Ein Bild ohne Differenzen ist also kein Bild, da es nicht als solches erkennbar ist. Ohne zu unterscheiden, können wir weder denken noch erkennen. Visuelle Artikulationen scheinen demnach der Inbegriff dessen zu sein, was man sich unter differenten Identitäten, die in Beziehung zueinander oder in Relation zu einem Bildrahmen gesetzt werden, vorzustellen hat. Ebenso beruhen Bilder auf einem visuellen Bedeutungssystem, das, ähnlich wie die Sprache, gelernt und schließlich interpretiert werden muss. Versteht man ein Abbild nicht als solches, so ist es innerhalb des Bedeutungssystems auch nicht existent. Dieses System visueller Bedeutungen wird folglich auch in jedem Akt der Bezeichnung involviert und ermöglicht überdies erst eine Signifikation. Daraus lässt sich schließen, dass Artikulationen hochgradig kontingent sind. Sie wären auch auf ganz andere Art und Weise möglich gewesen, sind jedoch keinesfalls beliebig, da sie nur innerhalb eines Bedeutungssystems als Momente eines Diskurses auftreten können. Somit ist ebenfalls einleuchtend, dass diese diskursiv wirksamen Artikulationen von etwas zusammengehalten werden müssen und nicht willkürlich geschehen können. Sie müssen in Beziehung zu einem Knotenpunkt stehen und hierdurch die Zugehörigkeit zu einem relationalen Signifikationssystem, einer Ordnung der Dinge, erzeugen. Andernfalls bleiben sie als diffuse Elemente bedeutungslos oder gar unsichtbar.
Die Konstruktion einer legitimen Ordnung wird auch durch die Praxis des In-Beziehung-Setzens in und mit Visualitäten möglich, sie sind demnach ebenfalls an der Erzeugung von Allgemeingültigkeit und Alternativlosigkeit der artikulierten Momente beteiligt. Eine solche Allgemeingültigkeit tritt dann auf, wenn eine möglichst lange Äquivalenzkette gebildet wird, und ein privilegierter Signifikant als Knotenpunkt diese gesamte Kette repräsentiert und die Einheit eines Diskurses sichert. Entsprechend unterschiedlicher Grade der Äquivalenzierung ist demnach auch von unterschiedlichen Graden der Entleerung eines visuellen Signifikanten auszugehen, weshalb zwischen mächtigen Knotenpunkten und entleerten Signifikanten bis hin zu leeren Signifikanten unterschieden werden muss (vgl. Demirovic 2007: 76; Marchart 2013: 322). Auch visuelle „Zeichen werden durch Äquivalenzbildung also der Tendenz nach zu leeren Signifikanten, ihre Differenz tritt zurück, sie alle drücken nur noch den Antagonismus gegen etwas aus, was sie nicht sind“ (Demirovic 2007: 71). In letzter Konsequenz ist auch die Identität einer visuellen Äquivalenzkette rein negativ, denn mit steigender Äquivalenz der Entitäten wird das „in ihnen allen gleicherweise präsente“ Etwas im Grenzfall „zu reinem gemeinschaftlichen Sein“ (Laclau 2002: 72). Das, was schließlich jenseits der Ausschließung liegt, „wird vielmehr die reine Anti-Gemeinschaft ausdrücken, das reine Böse und die Negation“ (ebd.: 73), ist jedoch in keiner visuellen Artikulation sichtbar, sondern nur in seiner Abwesenheit erfahrbar.
Es lässt sich festhalten, dass es somit unterschiedliche Grade der Entleerung und somit auch unterschiedliche Grade des Antagonismus zwischen einer Anti-Gemeinschaft und der „reinen Idee einer gemeinschaftlichen Fülle“ (ebd.) geben muss. Die Wirkungsweise von solchen Knotenpunkten, insbesondere von leeren Signifikanten, ist für das Verständnis visueller Artikulationen besonders relevant, da die Überdetermination dieser die Entstehung des Sozialen ermöglicht und zugleich verhindert. Sie sind notwendig für die Konstitution von Grenzen und der antagonistischen Zweitteilung des diskursiven Feldes. Die Beobachtung unterschiedlicher Grade der Entleerung ist der Ausgangspunkt auf der Suche nach dem „gleicherweise präsente[n] Etwas“ (ebd.: 72). Die Frage, was unsichtbar und demnach jenseits der Ausschließung bleibt, ist jedoch ebenso wichtig, wie die Frage, was allen Artikulationen gemein zu sein scheint. Denkbar ist konsequenterweise, dass eine spezifische visuelle Artikulation die Äquivalenzkette in seiner Gänze zu repräsentieren vermag und somit eine Fotografie selbst zum leeren Signifikanten avancieren kann. Dieser Sachverhalt ist besonders bei Fotografien zu vermuten, die durch eine lang anhaltende und vielseitige Rezeption und/oder durch ihre besondere Eindrücklichkeit einen Ikonenstatus erhalten haben [7]. Besonders soll im Folgenden auf die Eigenart und die Einzigartigkeit visueller Artikulationen geachtet werden. Wie verbale Artikulationen, so werden auch visuelle Artikulationen in den Dienst der Konstruktion einer hegemonialen Ordnung gestellt. Durch eine visuelle Diskursanalyse ließe sich demnach die Artikulation hegemonialer Interessen besser nachvollziehen. Es scheint jedoch wenig gewinnbringend, in Bildern die reine Verdoppelung sprachlicher Diskurse zu suchen. Es geht somit vor allem darum, die Eigenheiten visueller Diskurse im Auge zu behalten, sich für ihre Besonderheiten zu sensibilisieren und diese theoretisch fassbar zu machen. Da eine visuelle Diskurstheorie noch nicht in dieser Form ausgearbeitet wurde, ist der Rückgriff auf andere theoretische Konzepte nötig und hilfreich sein.
Bislang gibt es ebenfalls noch keine ausgearbeitete Methode einer visuellen Diskursanalyse, die auf die Erforschung der Grade der Entleerung und der Äquivalenzierungen ausgelegt ist. Wie solche Äquivalenzierungen visueller Art aussehen und erfassbar sind, soll hierbei methodisch und theoretisch erkundet werden. Inspiriert von methodischen Überlegungen bezüglich andersartiger Betrachtungsgegenstände wird im nachfolgenden Abschnitt ein ‚Werkzeugkasten‘ bestückt, der geeignete Heuristiken bereitstellt, um visuelle Artikulationen im Sinne von Laclau und Mouffe betrachten zu können. Diese werden anschließend an einem exemplarischen Korpus visueller Artikulationen zum Thema Schwangerschaft ausgetestet. Das Ziel dieser Arbeit ist jedoch nicht, den Knotenpunkt des hier betrachteten Korpus ausfindig zu machen und die Äquivalenzketten en détail zu vergegenwärtigen, um die damit gefestigte soziale Ordnung zu illustrieren. Der Korpus dient vor allen zur Inspiration und Irritation bezüglich der Theorieentwicklung einer visuellen Diskurstheorie im Sinne von Laclau und Mouffe.
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[1] Der von Richard Rorty 1967 herausgegebene Sammelband ‚The Linguistic Turn‘ ermöglichte, das schon früher beschriebene, sprachphilosophische Konzept des sprachbegründeten Konstruktivismus von Realität zum Leitkonzept der Geistes- und Kulturwissenschaften werden zu lassen (vgl. Bachmann-Medick 2006: 33-36; Rorty 1967)
[2] Die Erkundungen erfolgen anhand von unbewegten Bildern, v. a. Fotografien, aber auch Zeichnungen und Grafiken. Auch Visualitäten bewegter Art (Filme und Filmclips, GIFs und Animationen) sind bei einer visuellen Diskurstheorie einzubeziehen, kinematographische und auditive Aspekte werden jedoch vorerst ausgeblendet.
[3] Im Konzept der Semiosphäre von Lotman wird dieser Aspekt mithilfe der asymmetrischen Übersetzung plausibel. Durch die Artikulation von Texten, d. h. eine Übersetzung entsprechend nicht identischer Codes, werden die beteiligten Entitäten irreversibel transformiert, da eine Rückübersetzung niemals identisch mit den ursprünglichen Texten sein kann. Hierdurch wird Bedeutung bzw. Information generiert (vgl. Lotman 2010: 24; 54; 187).
[4] „Wenn wir von leeren Signifikanten sprechen, sprechen wir immer nur von tendenziell leeren Signifikanten“ (Marchart 2013: 322). Um diese Tendenz der Entleerung sprachlich zu markieren wird im weiteren Verlauf der Arbeit auch von „entleerten Signifikanten“ gesprochen, um den Prozess der Entleerung im Gegensatz zum Status des Leerseins zu betonen.
[5] Darüber hinaus gehen Laclau und Mouffe von einer Unmöglichkeit der Gesellschaft aus. Gesellschaft oder soziale Ordnung ist tendenziell nur in seiner Abwesenheit anwesend, denn „‚Ordnung‘ an sich hat keinen Inhalt, […; denn] in einer Situation radikaler Unordnung ist ‚Ordnung‘ als das anwesend, was abwesend ist“ (Laclau 2002: 76).
[6] Eine Beschreibung und Begründung des Datenkorpus wird erst an späterer Stelle durchgeführt. Zuerst sollen die Überlegungen bezüglich visueller Artikulationen illustriert und angeführt werden.
[7] Das einführende Kapitel zu „Das Jahrhundert der Bilder“, ein zweibändiges Werk, das sich mit den zentralsten und bekanntesten Bildern des 20. Jahrhunderts auseinandersetzt, illustriert anschaulich, welche Art von Bild als Ikone bezeichnet werden kann. Charakteristische Eigenschaften sowie ihre besondere Wirkungsweise werden dargestellt (vgl. Paul 2009; 2005). Ergänzend können auch Fahlenbrach/Viehoff (2005) und Grittmann/Ammann (2008) zum Verständnis von Ikonen herangezogen werden.