Grenzen und Ergänzungen:
Widerspruch
Bedingungen eines Widerspruchs
Das Ausbleiben eines Widerspruchs
Die im Kapitel fünf dieser Arbeit getätigten Schlussfolgerungen machen deutlich, dass die verbalen Ausführungen der visuellen Artikulationen ein Unbehagen und ein Relativierungsbedürfnis auslösen konnten, obwohl zuvor an den visuellen Artikulationen selbst nichts Empörendes zu finden war. Ein Bedürfnis einer relativierenden Anschlussartikulation bleibt aus. Widerspruch wurde scheinbar nur möglich, wenn eben dieser Schein, dass es sich hierbei lediglich um eine einzige Darstellungsweise unter vielen gleichfalls möglichen sowie verunmöglichten Darstellungen handelt, durch eine solche verbale Explikation enttarnt wird. Ein Widerspruch bleibt somit vergleichsweise aus. Den Bedingungen des Widerspruchs und möglichen Erklärungen für sein Ausbleiben wird sich nun ausführlich gewidmet.
Die diskursiv konstruierte Universalität eines leeren Signifikanten hat Laclau und Mouffe zur Folge, dass dieser maximal positiv erfahren wird, da er die Abwesenheit alles Bedrohlichen verkörpert. Eine Infragestellung dessen ist aufgrund seiner prinzipiellen Kontingenz zwar möglich, jedoch unwahrscheinlich. Innerhalb eines hegemonialen Diskurses kann einem leeren Signifikanten also praktisch fast nicht widersprochen werden, zumal er selbst nicht mehr bedeutet, als die Einheit des Diskurses. Wogegen sollte sich also der Widerspruch richten? Verhandelbar bleiben jedoch die Artikulationen, die mithilfe des leeren Signifikanten zu einer Einheit, bestehend aus allen Forderungen mit dem gleichen Ziel, geordnet werden.
Jedoch wird im vorliegenden Fall nicht nur der Positivität eines Schwangerschaftsbauchs nicht widersprochen, die gesamte visuelle Artikulation scheint unkommentiert zu bleiben. Dies lediglich auf die widerspruchhemmende Wirkung eines leeren oder entleerten Signifikanten zurückzuführen, scheint mir theoretisch zu kurz zu greifen und wichtige Aspekte der Wirkungsweise von visuellen Artikulationen zu verbergen. Der vorherige Abschnitt sollte zudem verdeutlichen, dass die Isolation eines (leeren) Signifikanten erschwert ist und es sich bei Bildern um visuelle Artikulation und nicht per se um leere oder entleerte Signifikanten handeln kann. Eine (verbale) Artikulation ist im Konzept von Laclau und Mouffe nicht vor einem Widerspruch gefeit, ihr generierter Sinn kann prinzipiell mittels anderer Artikulationen zurückgewiesen oder relativiert werden. Während die diskursiv konstruierten Bedeutungen umkämpft sind, bleibt die Universalität des leeren Signifikanten hierdurch zumeist unberührt. Ein solches Maß an Verhandlungsmöglichkeiten scheint dem betrachteten visuellen Korpus zu fehlen und lässt sich m. E. nicht allein durch die Anwesenheit des leeren Signifikanten erklären. Sie muss in der Art der Artikulation, seiner Visualität begründet sein, denn der Widerspruch scheint gegenüber visuellen Artikulationen generell und nicht nur bezüglich eines leeren Signifikanten erschwert.
Die im Vergleich zu Texten besondere Wirkmacht von Bildern wurde auch in gängigen Bildtheorien zum Thema gemacht. Während diese durchaus interessante Anmerkungen zu diesem Gegenstand bereithalten, scheinen mir dennoch sowohl eine direkte Übertragung der allgemeinen Konzepte von Laclau und Mouffe auf einen Gegenstand visueller Artikulationen, als auch die im Folgenden skizzierten Bildtheorien eine wichtige Eigenschaft von Bildern zu übersehen bzw. nicht mit der gleichen Reichweite einzubeziehen. Nach einem aus bildwissenschaftlichen Überlegungen stammenden Abschnitt zur besonderen Realität der Bilder, soll deshalb anhand weiterer theoretischer Konzepte ein umfassenderes Verständnis von der Wirkungsweise von Bildern möglich werden.
Die Suggestion von Objektivität
In einem Essay über Kriegsfotografien (2003) arbeitet Susan Sontag eine wichtige Facette von Fotografien heraus: Während Gesprochenem stets eine Subjektivität zuerkannt werde – die Artikulation notwendigerweise aus einer subjektiven Sprecherposition geschieht und ihr somit eine als kontingent nachvollziehbare Artikulationsentscheidung vorausgehe –, zeichneten sich Fotografien stattdessen durch einen eigentümlichen Schein der Objektivität aus, da sie vermeintlich Geschehenes sachlich dokumentieren und als Beweis, als ‚Spur der tatsächlichen Realität‘ gelten. Man tendiere bei Fotografien dazu, sie als unverzerrtes Abbild zu betrachten. Sie verbinden jedoch zwei gegensätzliche Merkmale miteinander. Einerseits ist ihnen eine „Garantie für ihre Objektivität“ (ebd.: 33) eingebaut, denn die ihr spezifische, maschinelle Wiedergabe bezeugt etwas real Geschehenes, wie dies eine sprachliche Darstellung niemals könnte. Jemand muss zugegen gewesen sein, um sie Aufzunehmen [34]. Diese vermeintliche Objektivität ist jedoch nur ein Schein, eine Illusion, denn natürlich sind Techniken der Bildbearbeitung so alt wie die Fotografie selbst, und in Zeiten von Photoshop u. Ä. auch im Bewusstsein eines Laienpublikums vorhanden. Darüber hinaus können und konnten Fotografien eigens gestellt und inszeniert werden. Schon allein deshalb bilden sie nicht notwendigerweise authentisches Geschehen ab. Und selbst wenn ein Bild keiner aktiven Manipulation – weder am Setting der Aufnahme, noch am Endprodukt – unterzogen wurde, ist dieses keineswegs objektiv, sondern stets aus einem subjektiven Blickwinkel aufgenommen (vgl. ebd.: 33, 55f.), denn „Fotografieren heißt einen Ausschnitt wählen, und einen Ausschnitt wählen heißt Ausschließen“ (ebd.: 56). Die Art, wie das real Geschehene fotografiert wird (Bildausschnitt, Perspektive, Weitwinkel, Farbfilter, Belichtungszeit, etc.) ist somit maßgeblich daran beteiligt, welches Abbild der Realität erzeugt wird. Demnach sind auch rein „technisch erzeugte Bilder Interpretationen von Wirklichkeit“ (Raab 2012: 124), was bedeutet, dass auch „diese Interpretationen regelgeleitet stattfinden und Fotografien typisierte Wahrnehmungen sind, in denen sich die symbolischen Ordnungen einer sozialen Wirklichkeit dokumentieren“ (ebd.; vgl. Bourdieu et al. 2006: 17). Bilder sind deshalb durchdrungen von kulturellen Kodierungen, die sich im Bildausschnitt und der verwendeten Perspektive zeigen, während zugleich die ursprünglichen Intentionen, die zu einem spezifischen Bildausschnitt führten, letztlich für die Bedeutung des Fotos nicht relevant sind (vgl. Sontag 2003: 48).
Fotografien sind also hochgradig kontingent: Sie besitzen eine kontingente Perspektive, schließen Aspekte ein, andere aus, und werden schließlich auf kontingente Weise – entsprechend kultureller Kodierungen als auch individueller Erinnerungen – gedeutet. Diese Interpretation ist schlussendlich handlungsleitend und konstituiert das Welt- und Selbstbild der Rezipierenden. Auch wenn Fotografien niemals ein reiner Durchschlag der Wirklichkeit sind, so sind sie „ein Mittel, etwas ‚real‘ (oder ‚realer‘) zu machen“ (ebd.: 14), denn von „Fotos erwartet man, daß sie zeigen, nicht andeuten […], als Beweis dienen“ (ebd.: 56). Das Ausmaß der Kontingenz der Fotografien werde in der alltäglichen Rezeption – so die Hypothesen der gängigen Bildtheorien – nicht mitreflektiert, eine realitätsgenerierende Wirkung sei deshalb die Folge.
Der dokumentarische Charakter, der Fotografien zugeschrieben wird, ist ohne Zweifel ein wichtiger Aspekt der Medienberichterstattung, die den Anspruch eines authentischen Beleges für etwas real Geschehenes erheben. Denn etwas (vermeintlich) real Geschehenem zu widersprechen ist eine risikoreiche Angelegenheit für einen Laien und wird häufig als Spinnerei oder als Verschwörungstheorie entschärft und abgetan. Jedoch zeichnet sich nicht zuletzt die Medienrealität des 21. Jahrhunderts ebenso durch eine Vielzahl offensichtlich inszenierter und vorgefertigter Fotografien aus, es gibt sogar Webseiten, auf denen solche vorgefertigten Bilder zu regelmäßig aufkommenden Themen zum Verkauf angeboten werden (vgl. Bildersuche.org). Auch bei den Titelseiten der Ratgeber besteht kein Zweifel an der Artifizialität des Abgebildeten, der Aspekt der Authentizität ist dabei nur mehr Nebensache. Wenn die Suggestion von Objektivität die Erklärung für die unkommentierte und nicht dementierende Rezeption ist, dann dürfte sich diese Wirkung auch ausschließlich auf Fotografien beziehen, jedoch zeigen sich im Korpus auch Zeichnungen und Grafiken von Schwangeren, die weitestgehend analog der Fotografien rezipiert werden. Hier stößt das Argument des dokumentarischen Charakters schließlich völlig an seine Grenzen. Während also auch bei der Rezeption die Inszenierung des Dargestellten offensichtlich zu Tage tritt, ist die Wirkmacht von Bildern dennoch besonders und nicht mit der von Texten zu vergleichen. Die Suggestion der Objektivität scheint mir hierbei jedoch nicht als Erklärung für die Wirkmacht von Bildern und das Ausbleiben von entgegengesetzten oder widersprechenden Artikulationen auszureichen. Eine eingehendere Betrachtung dessen, was unter einem solchen Widerspruch theoretisch zu verstehen ist, erscheint an dieser Stelle notwendig zu sein, um die Besonderheit visueller Artikulationen ausfindig machen zu können.
Der Widerspruch aus theoretischer Perspektive
Da prinzipiell jeglicher Sinn negiert werden kann, sind alle Kommunikationen bzw. Artikulationen ein Konfliktangebot, wenn man unter Konflikten „negierte Kommunikationen, die als solche zum Thema weiterer Kommunikation werden“ (Kieserling 1999: 267; vgl. ebd.: 266), versteht. Die auftretenden Kontroversen verweisen hierbei auf ‚funktionale Äquivalente‘: Es sind konkurrierende Sichtweisen oder Lösungsvorschläge für ein gemeinsames, soziales Problem. Eine solche Kontroverse erzeugt demnach Kontingenzerfahrungen: „Wo immer um etwas gestritten wird, legt dieser Streit Zeugnis von der Kontingenz eines Gegenstands ab. Das, worum gestritten wird, könnte auch anders sein, sonst gäbe es keinen Streit“ (Marchart 2013: 33). Die Artikulation der Bilder des Korpus führt jedoch nicht zu Kontroversen, stattdessen könnte der ‚eigentümliche Schein der Objektivität‘, der Bildern zu eigen sei, in gewisser Weise als „Kontingenzverleugnung“ (ebd.: 45) verstanden werden: Denn nur, wenn etwas als kontingent enttarnt und das Anders-Mögliche zum Thema gemacht wird, werden diese prinzipiell strittig und verhandelbar. Wird die Kontingenz jedoch verleugnet, so bleibt nichts, was verhandelbar wäre.
Versteht man das Soziale als Agglomeration von Diskursen, die auf der Praxis des In-Beziehung-Setzens beruht, so ist dessen Fundament notwendig kontingent [35]. Das soll nicht heißen, dass ein sozialer Tatbestand keine Gründe oder arbiträre Gründe hätte, ein Resultat von Zufall oder Willkür wäre, sondern „keine notwendigen Gründe hat“ (ebd.: 32) [36]. Hierdurch wird das Fundament des Sozialen zwangsläufig konfliktuell, wodurch „soziale Verhältnisse nicht zufällig oder gelegentlich strittig [sind], sondern prinzipiell und immer“ (ebd.: 204; vgl. ebd.: 31f.). Diese Konflikthaftigkeit des Sozialen existiert folglich nicht nur im Bereich der Politik, sondern ist eine ontologische Kondition, sie ist allgegenwärtig (vgl. ebd.: 204). Jedoch lässt sich diese Allgegenwart des Konflikts nicht empirisch prüfen und erscheint kontraintuitiv, da im Alltag Konflikte und Streits vermieden werden, sie sogar „eher Ausnahme als Regel zu sein“ (ebd.: 225) scheinen. Auf den ersten Blick wirkt es paradox, dass soziale Konflikte sowohl allgegenwärtig jedoch zugleich auch eher die Ausnahme als die Regel sein können.
Die von Laclau und Mouffe betonte Allgegenwart des Konflikts hat jedoch nur bedingt etwas mit einem Konflikt im Sinne einer Kontroverse oder eines Streits zu tun, denn eine Allgegenwart des Konflikts der ontischen Dimension – egal, ob dieser latent bleibt oder manifest wird – hat wenig Überzeugungskraft. Schließlich leben wir „nicht im verallgemeinerten Bürgerkrieg aller gegen aller“ (ebd.: 229). Während also im Alltag nicht alles prinzipiell als kontingent und konflikthaft erfahren und verhandelt wird, so ist dennoch die Konstitution des Sozialen „auf ein radikal negatives Außen jeder Relation“ (ebd.: 230) angewiesen. Dieser ontologische Konflikt ist der konstitutive Antagonismus, der „Prozeß der diskursiven Konstruktion der Realität selbst“ (Laclau 1988: 57) jedoch „kein Kampf um die Interpretationen“ (Marchart 2013: 302).
Demzufolge ist die Negativität, also eine Konstruktion der Undenkbarkeit von Objekten, die notwendige Komponente jedweder sozialen Bedeutungsform. Sie ist die Bedingung für die Denkbarkeit bestimmter Objekte (vgl. ebd.). Ohne einen konstitutiven Antagonismus wäre somit ein Kampf um Bedeutung, eine diskursive Verhandlung des Sinns, nicht möglich. Der Begriff des sozialen Antagonismus ist somit weder mit einem Widerspruch (einer logischen Unmöglichkeit, d. h. ‚A‘ vs. ‚Nicht A‘) noch mit einer Realopposition (zwei unabhängige positive Existenzen kollidieren miteinander, d. h. ‚A‘ vs. ‚B‘) vergleichbar, da beide ein definierbares und damit positives Verhältnis implizieren (vgl. Laclau/Mouffe 1991: 181). Weder Widerspruch noch Realopposition tragen hierdurch zur Konstruktion der Undenkbarkeit anderer Objekte bei, denn „[d]ie Präsenz des Anderen ist keine logische Unmöglichkeit: es existiert ja“ (ebd.: 180; vgl. 179). Lediglich die Erfahrung der Grenze jeder Objektivität, d. h. jeder Positivität, zeigt die Präsenz des Antagonismus. Antagonismus ist das Scheitern der Differenz, wodurch er sich der Möglichkeit entzieht, durch Sprache erfasst zu werden. Dieser grundlegende Antagonismus ist folglich unsagbar und damit auch undenkbar, jedoch die Voraussetzung für die diskursive Konstruktion des Sozialen, die sich in Konflikten, in Rissen und Brüchen als Aktualisierungen der fundamentalen Blockade der Schließung des Sozialen zeigt.
Die betrachteten Bilder sind demnach hochgradig und bezüglich zwei verschiedener Dimensionen kontingent. Da jede Darstellung ein definierbares Verhältnis und damit eine positive Existenz impliziert, sind negative Darstellungen prinzipiell unmöglich. Nur das, was generell im Bereich des Denkbaren und Vorstellbaren liegt, lässt sich mittels eines differentiellen Signifikationssystems darstellen. Was als undenkbar gilt, d. h. die Dimension des ontologischen Antagonismus, lässt sich nicht darstellen. Diese radikale Kontingenz ist zwar prinzipiell konfliktuell, jedoch kein Konflikt, der durch Widerspruch artikuliert werden kann. Widerspruch gegenüber Artikulationen, d. h. der ontischen Dimension, sind jedoch möglich.
Die ontologische Blockade des Sozialen, die Unmöglichkeit einer finalen Fixierung von Bedeutung, die hierdurch auch die absolute Schließung des Sozialen verhindert, wird von Laclau und Mouffe provokant die ‚Unmöglichkeit des Sozialen‘ genannt. Jedoch ist diese zugleich auch die Bedingung der Möglichkeit des Sozialen, da aus der Unmöglichkeit der finalen Fixierung die Notwendigkeit der zeitweisen, prinzipiell konflikthaften Fixierung, der Praxis der Artikulation, resultiert. Die Unmöglichkeit des Sozialen führt zu einer Notwendigkeit von konflikthaften Artikulationen, die mittels zeitweiser Fixierungen zumindest teilweise eine soziale Ordnung ermöglichen. Daraus folgt, dass alle Antagonismen, die diskursiv sichtbar werden, nur Aktualisierungen der fundamentalen Blockade einer finalen Schließung des Sozialen sind. Durch solche diskursiven Antagonismen kann jedoch der konstitutive Antagonismus des Sozialen, also das nicht-Artikulierbare dennoch erfahrbar werden.
Ein Widerspruch wäre also nur in der ontischen Dimension denkbar. Hierbei können alternative Sichtweisen artikuliert werden, die dadurch als funktionale Äquivalente im Diskurs auftauchen und um ihre soziale Vorherrschaft ringen. Während somit der Antagonismus auch für den vorliegenden Korpus konstitutiv ist, ist dieser nicht direkt, sondern lediglich in seiner Abwesenheit erfahrbar, d. h., in dem was unvorstellbar und damit unsagbar ist. Das Ausbleiben eines Widerspruchs bezüglich der Artikulation an sich, d. h. dem, was dargestellt ist und was nicht dargestellt wird, jedoch gleichfalls möglich wäre – folglich prinzipiell sag- und denkbar wäre –, muss somit in der ontischen Dimension verortet werden. Dieser ontische Konflikt scheint jedoch bei dem vorliegenden Korpus nur in seiner Abwesenheit anwesend zu sein. Ein konkreter Disput bleibt offenbar aus, Kontroversen tauchen nicht auf. Erklärt man jedoch diesen ausbleibenden Widerspruch mit einer Kontingenzverleugnung, so impliziert dies lediglich eine alternative Formulierung des weiter oben angeführten Arguments einer Suggestion von Objektivität, die Bilder zu eigen sei. Worin besteht also der Unterschied von sprachlichen und visuellen Artikulationen in Bezug auf die ontische Dimension des Konfliktes? Warum scheint der ontische Konflikt vor allem durch sprachliche Artikulationen zu Tage, jedoch bei visuellen Artikulationen, wie die hier betrachteten, in den Hintergrund zu treten?
Exkurs: Antagonisierende Artikulationen abseits des Datenkorpus
Während im vorliegenden Korpus, wie weiter oben schon erwähnt, keine antagonisierenden Artikulationen ersichtlich wurden, wird an dieser Stelle keineswegs die Behauptung aufgestellt, dass es sich bei dem Diskurs der Schwangerschaft um einen homogenen und konfliktfreien Diskurs handelt. Schon allein die Praxis der Schwangerschaft, die ebenfalls Teil der diskursiven Ordnung nach Laclau und Mouffe ist, zeigt erhebliche Abweichungen von dem homogenen Bild der Ratgeber. Rauchende, alkoholisierte, obdachlose oder schwer arbeitende Schwangere, nur um Beispiele zu nennen, sind somit Teil der sozialen Ordnung, jedoch keineswegs Teil der Äquivalenzkette der idealen und damit vorbildlichen Schwangerschaft. Solche Arten von Schwangerschaft existieren, damit sind sie Teil der artikulatorischen Praxis des In-Beziehung-Setzens, sie sind somit ganz und gar nicht undenkbar, unsagbar und damit unsichtbar. Während also auch rauchende, alkoholisierte, obdachlose oder schwer arbeitende Schwangere prinzipiell artikulierbar wären, so sind solche nur in ihrer Abwesenheit in dem vorliegenden Korpus erfahrbar. Der ontische Konflikt liegt somit auch darin, dass eine Äquivalenzkette ‚ideale Schwangerschaft‘ nur in Abgrenzung zur ‚unverantwortungsvollen Schwangeren‘, zu ‚Rabenmüttern‘ o. Ä. vollzogen wird, die diskursiv zwar existieren, jedoch nicht äquivalent mit dem idealen, also hegemonialen Bild der Schwangerschaft gesetzt werden können. Sie sind inakzeptabel. In einem idealisierten Korpus der Ratgebertitelseiten, sind sie nicht direkt, jedoch durchaus in ihrer Abwesenheit erfahrbar. Dadurch, dass alle Frauen körperlich gesund und sportlich fit sind, sind Frauen mit gesundheitlichen Problemen, unsportlicher Statur als Spur des Andersartigen existent, jedoch nicht signifiziert.
Durchaus wurden vereinzelt solche inakzeptablen, d. h. antagonisierende visuelle Artikulationen bei weiterführenden Recherchen gefundenen, die die Homogenität des hier behandelten Korpus herausfordern würden. Zu solchen Artikulationen zählten unter anderem Fotos zweier Schwangerer, die auch während ihrer Schwangerschaft exzessiv Sport betrieben. Obwohl aus medizinischer Sicht die Gesundheit der Ungeborenen unbeeinträchtigt war, eine Ärztin sogar den positiven Einfluss von einem trainierten Körper auf die Schwangere und das Ungeborene hervorhob (vgl. Brigitte.de), so waren Abweichungen von dem sonst üblichen Körper einer Schwangeren deutlich erkennbar: Der Bauch war viel kleiner, fast nicht als Schwangerschaftsbauch erkennbar, die Rundungen neben den Muskeln nur leicht zu erahnen (vgl. Brigitte.de; Promiflash.de1; Stylebook.de; Watson.ch). Diese beiden Schwangeren mussten sich jedoch viel Kritik und Vorwürfe anhören. Gleiches fällt bei Bildern von vermeintlich alkoholtrinkenden Schwangeren auf (vgl. tz.de). Schon allein das Färben der Haare während der Schwangerschaft löste hitzige Debatten aus, die das Verantwortungsbewusstsein der Schwangeren massiv in Frage stellten (vgl. Promiflash.de2).
Während also die Homogenität des hier betrachteten Korpus keinen Widerspruch auslöste, so überhäufen sich bei den eben illustrierten Artikulationen, die dem idealen Bild der Schwangerschaft zuwiderlaufen, die kritischen Positionen. Solche Artikulationen enttarnen die Stillstellung von Kontingenz und sind als Risse oder Brüche der sozialen Ordnung zu verstehen. Durch solche Risse können andere, ebenso mögliche Ordnungen durchscheinen und die Universalität der bestehenden Ordnung in Frage stellen. Der sogenannte Shitstorm [37], der durch solche Artikulationen ausgelöst wurde, lässt sich als Versuch interpretieren, die sichtbar werdenden Risse zu reparieren, die soziale Ordnung zu stabilisieren.
Im Zuge der Zusammenstellung eines Bildkorpus wurden Überlegungen angestellt, solche herausfordernden und kontroversen Artikulationen miteinzubeziehen. Dies gestaltete sich jedoch als sehr komplex, da sich kein konkreter Korpus abzugrenzen schien. Solche antagonisierenden Artikulationen treten im Diskurs nur sehr vereinzelt und diffus auf, sind jedoch mittels Suchmaschinen, die solche Visualitäten lediglich in Form von Schlagworten mittels des Algorithmus finden können, nur sehr unkontrolliert erfassbar und sind daher selbst für eine explorative Untersuchung schwer fassbar. Eine systematische Suche war deshalb nicht möglich, viel mehr ließ sich mittels sozialer Netzwerke über solche Artikulationen ‚stolpern‘. Zu bedenken ist zudem, dass ein solcher Shitstorm aus sprachlichen Artikulationen besteht, visuelle Artikulationen nur dessen Auslöser darstellen. Hierdurch wäre m. E. eine dezidierte Betrachtung und Analyse verbaler Entitäten notwendig geworden, während das Vorhaben dieser Arbeit, eine Sensibilisierung für die Besonderheiten visueller Artikulationen, wohl zu sehr aus dem Blick zu geraten drohte.
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[34] Technisch ist eine Anwesenheit eines Subjektes im Moment der Aufnahme nicht mehr notwendig, ob und wenn ja, wie dies die Realität dieser Bilder verändert, ist noch unerforscht.
[35] Die Erfahrung der Kontingenz sei das entscheidende Charakteristikum der Moderne. Auch vormoderne Gesellschaften war in Krisensituationen die Erfahrung der Kontingenz möglich, jedoch handelt es sich im Falle der Moderne um die Erfahrung ihrer Notwendigkeit (vgl. Marchart 2013: 31). Aufgrund der „enorme[n] Ausdehnung der Zonen der Ungewissheit“ (ebd.: 28) ist „in der Moderne nur eines gewiss […], nämlich die Ungewissheit“ (ebd.: 31). Kontingenz ist jedoch im Gegensatz zu bloßer Unsicherheit ein Reflexionsprodukt, wodurch das Besondere der Moderne das verallgemeinerte Bewusstsein dieser Ungewissheitsgewissheit ist. Damit reflektiert die Moderne „die Gründungsbedürfigkeit und zugleich Ungründbarkeit des sozialen Seins“ (ebd. 204) und erkennt schließlich „ihr Fundament als notwendig kontingent“ (ebd.: 31, vgl. ebd. 28ff.).
[36] Hierin liegt auch der Unterschied einer antifundamentalistischen und einer postfundamentalistischen Auffassung des Sozialen. Entgegen der antifundamentalistischen Perspektive geht die postfundamentalistische nicht von einer Arbitrarität des Sozialen aus. Gründe sind zu finden, jedoch keine letzten, keine ontologischen Gründe.
[37] ‚Ein Sturm der Entrüstung‘, d. h. ein lawinenartiges Auftreten negativer Kritik bis hin zu Schmähkritik gegen spezifische Akteur*innen im Rahmen von sozialen Netzwerken, Blogs oder Kommentarfunktionen von Internetseiten, die auch mit beleidigenden Äußerungen einhergehen (vgl. Duden.de).